Vorwort

 

Im Archiv des Lötzener Heimatmuseums in Neumünster befinden sich umfangreiche handschriftliche „Tagebuchaufzeichnungen von Henriette Schneider 1913-1947“,
ca. 2500 eng beschriebene Seiten, gebunden in fünf Bänden.

Henriette Schneider wurde am 15. September 1872 in Rostken, Kreis Lötzen geboren. Sie lebte überwiegend in den Kreisen Lötzen und Lyck. Sie führte von 1893 an bis an ihr Lebensende 1947 ein Tagebuch. Ihre Aufzeichnungen von vor 1913 sind im ersten Weltkrieg verloren gegangen (20 Jahrgänge). Glücklicherweise wurden die 34 Jahrgänge 1913-1947 über den zweiten Weltkrieg gerettet und sind in der Lötzener Heimatsammlung der Nachwelt erhalten geblieben.

Im Januar 2009 schrieb mir Ute Eichler, die Archivarin der Lötzener Heimatsammlung:

Unter den Archivalien der Lötzener Heimatsammlung befinden sich als unikates Stück die „Tagebuchaufzeichnungen der Frau Henriette Schneider“ in fünf Bänden. ...
Es hat noch nie jemand sich der Mühe unterzogen, sich in die kleine, gedrängte Handschrift einzulesen. Es ist noch nie der Versuch unternommen worden herauszufinden, welch eine Fundgrube diese Aufzeichnungen zu Orten, Menschen, Verhältnissen und geschichtlichen Ereignissen sein könnten. Habe ich Sie neugierig gemacht, dieses Fenster in die Vergangenheit aufzustoßen? Es würde mich freuen, wenn Sie eine „Kostprobe“ dieser Aufzeichnungen verlangen würden.

Frau Eichler hatte mir das vorgeschlagen, weil sie wusste, dass ich Übung im Lesen alter Handschriften habe. Ich hatte vorher alte Dorfgründungsurkunden aus der Lötzener Heimatsammlung entziffert und in heutiges Deutsch übertragen.

So ließ ich mir im Februar 2009 den ersten Band als Kostprobe schicken, den ich dann bis Juni 2009 durchgelesen hatte (ca. 500 Seiten). Nachdem ich mich an Henriettes Handschrift gewöhnt hatte, konnte ich ihr Tagebuch gut lesen, schwierig war es nur bei unbekannten Namen. Weil ich Interesse an den Tagebuchaufzeichnungen gefunden hatte, ließ ich mir ab Juni 2009 die folgenden vier Bände schicken und habe diese dann bis Mai 2010 vollständig durchgelesen.

Um einen Überblick über den gesamten Inhalt des Tagebuchs zu erhalten ohne es wiederholt lesen zu müssen, habe ich Sätze und Passagen, die mir interessant und wichtig erschienen, aus dem Tagebuch abgeschrieben. So entstand die vorliegende Kurzfassung, die etwa 10 % des Originaltextes enthält. Weggelassen wurden vor allem weniger interessante tägliche Eintragungen über das Wetter, die Arbeiten im Haushalt und über die umfangreiche Korrespondenz.

Henriette Schneiders Tagebuch ist interessant, weil man erfährt, wie sie selbst das Zeit-geschehen in den Jahren 1913 bis 1947 erlebt hat, insbesondere den ersten Weltkrieg, die Weimarer Republik, die Inflation, die Nazizeit und den zweiten Weltkrieg. Hervorzuheben sind auch ihre vielfältigen Eintragungen über die Familie ihrer Schwester Anna, eine ostpreußische Dorfschullehrerfamilie, mit der sie zusammenlebte.

Die vorliegende Kurzfassung des Tagebuchs soll das Lesen des Originals erleichtern. Vorangestellt ist eine Inhaltsübersicht der fünf Tagebuchbände. Der Anhang enthält einen Überblick über die Lebensstationen der Henriette Schneider sowie eine Chronik der Lehrerfamilie Woyczechowski.

Hohentengen, im Juni 2010                                                      Bernhard Pietrass


Ergänzung im November 2011

Die Kurzfassung von Henriette Schneiders Tagebuch liegt seit Juni 2010 im Archiv der Lötzener Heimatsammlung in Neumünster und kann dort gelesen werden. Um aber das Tagebuch einem breiteren Leserkreis bekannt zu machen, habe ich es im November 2010 ins Internet gestellt. Damit verband ich auch die Hoffnung, dass sich Zeitzeugen melden würden, die Henriette Schneider persönlich gekannt haben.

Diese meine Erwartung hat sich erfüllt. Am 13. Juni 2011 schrieb Frau Tilla Hampel an die Archivarin des Lötzener Heimatmuseums:

Sehr geehrte Frau Eichler,

mein Sohn, Dr. Frithjof Hampel, fand im Internet die Tagebücher von Henriette Schneider und hat sie mir kopiert, zu meinem allergrößten Interesse. Ich bin eine Enkelin von Frau Maria Kemke aus Widminnen und habe dort und bei Homms in Lötzen und bei Woyczekowskis in Mrossen bei Lyck Tante „Jettchen“ erlebt. Sie ist mir noch sehr lebendig in meiner Erinnerung. Auch besitze ich ihr Fotoalbum aus Gut Berghof, das sie meiner Tante Dore Homm aus Lötzen vermacht hatte, mit einigen Fotos von sich selber.

Tante Jettchen war schlank, sehr lebhaft, wissensdurstig, reiselustig und das lebende Inventar an Erzählungen über unsere vielen ostpreußischen Familien. Ich habe sie zuletzt als Sechzehnjährige in Mrossen erlebt, wo sie in und sehr engagiert mit der Familie ihrer Schwester Anna lebte. Ich war vier Wochen dort, wie sie auch schreibt und wurde von ihren Nichten und Karl in Nachhilfe unterrichtet und erlebte dort durch die Familie eine glückliche Zeit.

Wenn sie auf Reisen ging, schrieb sie meiner Tante Else Kemke, daß sie in Widminnen einige Minuten Aufenthalt hat und sie Else Kemke bittet, dort von ihr einen Briefbogen mit vielen Fragen in Empfang zu nehmen und bei ihrer Rückfahrt den Brief beantwortet an den Zug zurückzubringen.

Durch ihr großes Interesse am Leben so vieler ostpreußischer Familien, ihre lebhaften Erzählungen und ihr Einspringen als gute, vertrauensvolle Haushälterin in den befreundeten Familien war sie überall herzlich willkommen.

Ich bedaure sehr, daß ihre Tagebücher bis 1913 ... verloren gegangen sind, denn ich bin eine Nachfahrin der Familie von Streng und hätte viel aus dieser Zeit erfahren können über das Leben und Treiben meines Großonkels Carl (genannt Role) von Streng, Herr vom 2600 Morgen großen Gut Berghof, Bruder meiner Großmutter Kemke aus Widminnen und ihrer Schwester Ida Homm aus Lötzen.

Ich, Tilla Hampel geb. Jessat, bin am 12. 3. 1920 in Königsberg zur Welt gekommen und lebe seit einem halben Jahr in Bad Neuenahr. ...

Ich habe Kontakt zu Frau Hampel aufgenommen und erhielt dankenswerterweise von ihrem Sohn Frithjof eine Kopie des erwähnten Berghofer Fotoalbums, das sich als eine wertvolle Ergänzung zu Henriette Schneiders Tagebuchaufzeichnungen herausstellte. Wenn auch die Qualität der ca. 100 Jahre alten Fotos aus heutiger Sicht nicht gut ist (auch nach Bearbeitung), so liefern die Fotos doch konkrete Bilder der erwähnten Personen und Orte, von denen man sich sonst nur vage Vorstellungen machen kann..

Aus dem Familienalbum geht hervor, dass Henriette Schneider ihr Berghof-Fotoalbum zunächst Elke Kemke geschenkt hatte, wie dieser Vermerk von Dore Homm im Fotoalbum zeigt: Dieses Fotoalbum soll meine Nichte zweiten Grades Tilla Hampel geb. Jessat ... bekommen. Tante Jettchen Schneider hatte es meiner Cousine Else Kemke geschenkt.
16. 7. 1987   D. Homm


Frau Hampel hat mir auch Informationen über die Familie von Streng (Herren auf Gut Berghof 1865-1917) und die verwandten Familien Kemke (Widminnen) und Homm (Lötzen) mitgeteilt, die wichtig sind für das Verstehen der Tagebuchaufzeichnungen von Henriette Schneider aus ihrer Berghofer Zeit. Ich habe daher den ersten Band (1913-1917) noch einmal gelesen und meine Kurzfassung davon um einige Seiten erweitert. Außerdem habe ich die Anhänge 3 und 4 hinzugefügt.

Hohentengen, im November 2011                               Bernhard Pietrass